Kein Philosoph hat die Toleranz einflussreicher verteidigt als der französische Aufklärer Voltaire, der am 30. Mai 1778 gestorben ist. Mögen die Feinde dieses Ideals heute auch andere sein, die Grundfragen bleiben die gleichen. Voltaire spricht zu uns als Zeitgenosse, wie Philippe Raynaud argumentiert. Als Autor wird Voltaire gegenwärtig von den meisten Philosophen nicht mehr sonderlich geschätzt. Sie finden seine Metaphysik gern etwas kurz gedacht und sind eher empfänglich für die Radikalität seines großen Widersachers Rousseau. Was allerdings auch heute noch von ihm in Erinnerung bleibt, ist sein Eintreten für die Toleranz und sein politischer Kampf für die Rehabilitierung von Johann Calas. Voltaire ist ein genialer Polemiker, der sich in dieser Abhandlung darum bemüht, die Gläubigen zu überzeugen, ohne dabei ihr religiöses Dogma oder ihren Kult frontal anzugreifen. Er wendet sich an sie als vernünftige Menschen, die imstande sind, die Stimme der Natur zu vernehmen. Genau das ist auch heute noch wichtig für diejenigen, die sich jetzt auf Voltaire berufen, um den Laizismus oder die Freiheit des Denkens zu verteidigen. Fragestellungen über Toleranz, gesellschaftlichen Frieden und religiöse Freiheit sind im gesamten Werk Voltaires präsent, doch in den Philosophischen Briefen (1734) hat er die Bedingungen und zugleich die Auswirkungen der Toleranz wohl am besten erklärt. Als Beispiel dient ihm die Gegenüberstellung der von England errungenen Fortschritte und der Rückständigkeit des katholischen und monarchischen Frankreich. Die religiöse Vielfalt Englands erscheint hier als das gelungene Produkt einer oft gewaltsamen Geschichte, die sich aber schließlich zur Freiheit gewandt hat. Möglich wurde sie durch den Bruch Englands mit Rom, der letzten Endes zu einer Blüte von „Sekten“ führte, von der zwar keine die andere ausschalten konnte, die aber gerade deshalb die Macht der offiziellen (anglikanischen) Kirche einschränkten. Eine berühmte Passage aus dem sechsten Philosophischen Brief liefert ein erstaunliches Bild der englischen Freiheit, deren Symbol ausgerechnet die Londoner Börse ist: „Man gehe auf die Börse in London, einen Platz, welcher ansehnlicher ist als manch ein Hofstaat, wo sich die Abgeordneten von allen Völkerschaften einfinden, um die Wohlfahrt der Menschen zu befördern. Hier treten der Jude, der Türke und der Christ miteinander in Unterhaltung, als wären sie Glaubensgenossen, und nennen nur denjenigen einen Ungläubigen, welcher bankrott ist. Hier vertraut der Presbyterianer dem Wiedertäufer, und der Anglikaner nimmt von dem Quäker Versprechungen entgegen. (…) Wenn in England nur eine Religion herrschte, so würde die unumschränkte Gewalt zu fürchten sein; wären es ihrer zwei, so würden sie sich einander die Kehle abschneiden; sie sind aber wohl an die dreißig und leben alle friedlich und glücklich.“ Weiter geht’s hier auf Philosophie heute.